Gian Piero de Bellis

Polyarchie : ein Manifest

(2003)

 


 

Teile III

Gegenwart/Zukunft


36. Die Krise des Staatismus

37. Moralische Krise

38. Materielle Krise

39. Politische Krise

40. Die neue Realität

41. Die neue Saat

42. Das neue Paradigma

43. Die neuen Voraussetzungen

44. Das neue Szenario

45. Polyarchie

46. Grundsätze

47. Protagonisten

48. Prozessen

49. Schlussüberlegungen

 


 

Die Krise des Etatismus(^)

Zum Ende des 20. Jahrhunderts ist der Etatismus in eine letzte Krise geraten, aus der es keinen Ausweg zu geben scheint. Das liegt daran, dass dem Staat selbst, ja seine Existenz und sein Fortbestehen zum eigentlichen Problem geworden sind, das heißt zur wahren Ursache der meisten Probleme. Die Lösung eines Problems besteht in der Bewältigung desselben durch die Überwindung seiner Ursache; genauso ist die Lösung der Krise des Etatismus möglich, indem man den Etatismus durch die zunehmende Abschaffung des monopolistischen Territorialstaates überwindet.

Zu viele Hoffnungen und Vorstellungen über den Staat, denen zu viele Menschen für einen zu langen Zeitraum einen zu hohen Stellenwert eingeräumt haben, werden zu teuer, um an ihnen festzuhalten. Zu teuer im Sinne von moralischer Korruption, materiellem Versagen und schierer politischer Idiotie.

Untersuchen wir die Hauptpunkte der Krise. Sie schließen mindestens drei Facetten ein:

  • Moralische Krise
  • Materielle Krise
  • Politische Krise

 

37. Moralische Krise (^)

Das offensichtlichste Zeichen der moralischen Krise des Etatismus ist sein Mangel an fortschrittlichen Werten. Nach dem Zusammenbruch von Scheinprinzipien wie Patriotismus, Rasse, militärischem Heldentum und so weiter wurden sie durch Scheinbotschaften ersetzt, die in Phrasen wie dem "öffentlichen Interesse" und dem "Allgemeinwohl" zusammengefasst sind, bequemen Formeln, die geeignet sind, das Horten und die Plünderung von Reichtümern durch parasitäre Gruppen zu überdecken.

Es gibt kein besseres Beispiel für den moralischen Bankrott des Etatismus als den Austausch von Sittlichkeit durch Legalität. Das Funktionieren der Gesellschaft wird dabei als die kontrollierte Durchsetzung von allen Arten von Vorschriften und Beschränkungen von oben gesehen und nicht als das freie Wechselspiel von Menschen ausgestattet mit Moral und Verstand. Das Ergebnis ist, dass die Staaten mit mehr Vorschriften und mehr Kontrolle auch die mit mehr Unordnung und soziales Unbehagen sind. So wie Drogenabhängige im dauernden Drogenkonsum die Lösung ihrer Probleme sehen und nicht zur Kenntnis nehmen wollen, dass die scheinbare Aufklärung tatsächlich die Probleme nur noch verschlimmert, ebenso verhält sich auch der Etatismus, wenn er mehr und mehr Vorschriften und Beschränkungen befürwortet.

Ein weiterer Indikator der moralischen Krise ist der Glaube an die wundertätige Kraft des Geldes. Der Etatismus geht davon aus, dass Geld jede Schwierigkeit in jeder Situation zu jeder Zeit und an jedem Ort lösen kann. Das Ergebnis war die Vervielfältigung und Verschärfung moralischer Probleme mit der Entstehung und Einführung von mächtigen Mafia-Gruppen und Kleinkriminellen als Unterabteilungen des Staates.

Im Herrschaftsbereich des Staates scheint es keine Grenzen für Gesetzeswahnsinn (z. B. Fehlurteile) und Geldverschwendung (z. B. Zweckentfremdung und Missbrauch von Finanzmitteln) zu geben, besonders wenn sie von starken parasitären Interessengruppen unterstützt werden, die sich als das öffentliche Interesse tarnen. In dieser Hinsicht wenigstens bot der Kapitalismus ein weniger verlogenes und offeneres Bild persönlicher Interessen, als er die Ansicht verfocht (zu Recht oder Unrecht), dass sie schließlich zum allgemeinen Nutzen sein würden. Der Etatismus hingegen täuscht geschickt egoistische Interessen als öffentliche Interessen vor.

Der Hauptunterschied zwischen beiden ist aber, dass der Kapitalismus ein fortschrittlicher und produktiver Zeitraum in der Geschichte war, während der Etatismus ein Parasitärer ist und Parasitismus nie im allgemeinen Interesse liegen kann. Darüber hinaus war der Kapitalismus haushälterisch im Umgang mit Ressourcen, während der Etatismus verschwenderisch ist.

Diese Tatsache führt gleich zum zweiten Aspekt: die materielle Krise.

 

38. Materielle Krise (^)

Die Massen schenkten dem Etatismus ihre Gunst, weil der Staat in Zeiten großen Elends und Unsicherheit (Krieg, Unfrieden, Hungersnöte, Arbeitslosigkeit etc.), die sehr oft vom Staat selbst ausgelöst oder provoziert wurden, scheinbare Sicherheit oder den Eindruck vermittelt hat, die einzige Organisation zu sein, die die Sicherheit wiederherstellen kann.

Der Hauptaspekt der Sicherheitsvorsorge war die Umverteilung von Gütern, die Unternehmer, Erfinder und Arbeiter zunächst durch Mechanisierung und später durch Automatisierung hergestellt haben.

Die Umverteilung von Ressourcen war das Meisterstück des Etatismus, aber sie könnte auch eine wichtige Rolle bei seinem Verderben spielen. Tatsächlich hat sie allerweil größere Erwartungen bei einer immer breiteren Zahl von Menschen erzeugt. Sie hat Parasitismus und parasitäre Berufe auf ein Niveau vervielfacht, das seit Menschengedenken niemals zuvor erreicht worden war. Gleichzeitig hat sie Menschen erfundene Gründe für den Glauben gegeben, sie würden nützliche Tätigkeiten ausführen, die in einer modernen Gesellschaft essenziell seien oder dass sie in einer sich fortentwickelnden Gesellschaft nachhaltige Rollen ausfüllen würden.

Rechtsanwälte, Wirtschaftsprüfer, Notare, Staatsdiener, Sozialhilfeempfänger etc. - die meisten von ihnen sind Teil einer großen Masse, einer Mischung von Illusionen über die Gegenwart und wahrscheinlicher Täuschung über die Zukunft. Sie sind direkt oder indirekt, bewusst oder unbewusst Glied einer gewaltigen Bürokratie, oder, anders gesagt, einer massiven parasitären Gesellschaft.

Um diese Gesellschaft durchzufüttern und am Leben zu erhalten, haben die Staaten überall in der Welt riesige Schulden angehäuft, die sie als Erbe an spätere Generationen weitergeben werden. Um die Fassade am Einstürzen zu hindern, verkaufen die Staaten hastig Aktiva, die sie sich vorher angeeignet oder monopolisiert haben, fördern verzweifelt Glücksspiel (Lotterien und alle Arten von Geldspielen) und treiben wie immer das Konsumverhalten an, um den Strom an Steuereinnahmen am Laufen zu erhalten.

Jedem freien und rationalen Menschen zeigt sich der Staat zunehmend als vielarmige Räuberbande, deren Existenz auf Erpressung, Korruption und Betrug basiert.

Es ist ein moralisches und materielles Desaster.

Die Blase wird platzen, wenn die Wahrnehmung einer moralischen und materiellen Krise offenkundiger und von einer politischen Krise begleitet wird, der überfälligen Entdeckung, dass der König nicht nur keine Kleider trägt, sondern auch schlaff und elend ist.

 

39. Politische Krise (^)

Der Schleier der Fiktion, der die repräsentative Demokratie verhüllt und gestützt hat, ist endlich gefallen.

Repräsentative parlamentarische Demokratie hätte angemessener besser manipulative totalitäre Staatsform genannt werden sollen, weil der Staat sich einmischt, um einfach jeden Aspekt im Leben der Menschen zu regulieren, eingeschlossen Trinkgewohnheiten und sexuelle Praktiken von Erwachsenen.

Auf jeden Fall repräsentiert der Wahlvorgang verändert oder nicht, nicht mehr den Willen der Mehrheit (wenn er es überhaupt jemals getan hat) ehrlichen und gewissenhaften Delegierten anvertraut und von ihnen dann durch angemessene und gut durchdachte Maßnahmen in Wirklichkeit umgesetzt.

Tatsächlich hatte dieses idealtypische Porträt repräsentativer Demokratie sogar in der Vergangenheit keinen Bezug zur Realität, da eine Mehrheit des Volkes eine Elite wählte und schon beinahe unterwürfig und ohne viel Einmischung akzeptierte, von ihr beherrscht zu werden.

Jetzt haben wir den Punkt erreicht, an dem eine Minderheit der Bevölkerung wählt und alles an eine Mikro-Elite delegiert. Das lässt den alten Glauben, der Wahlvorgang sei der Ausdruck des Willens der Mehrheit, nicht nur fiktional, sondern absurd erscheinen.

Das Vertrauen in die Wahlen ist zusammengebrochen. Die Wahlurne ist zu einem leeren Behältnis geworden.

Die Krise der politischen Repräsentation ist tout court eine Krise der Politik oder wie sie während des Etatismus betrieben wurde, das heißt Parteien, Interessengruppen und drückende Gruppen, die geschäftig Stimmen verkaufen, Masken aufsetzen, Nebelkerzen werfen, Lügen produzieren, Gedanken manipulieren, wieder und wieder bis zum Erbrechen.

Gegenwärtig gibt es eine solche Frustration und Verzweiflung über Politik, dass wer auch immer scheinbar etwas Neues in einem neuen Stil und mit einer neuen Haltung sagt, Interesse und Anhänger findet zumindest für einige Zeit.

Der Weg aus diesem Schlamassel führt aber nicht länger (wenn überhaupt je) über Prediger und Anhänger neuer Evangelien.

Der Ausweg besteht zu allererst in einem persönlichen Erwachen und einem Bewusstsein, einer neuen Realität und der neuen Saat einer potenziellen Stärkung, die sie wachsen lässt und zum Leben bringt.

 

40. Die neue Realität (^)

Die neue Realität entblößt auf subtile, aber eindeutige Art für alle, deren Augen nicht von Eigennutz geblendet sind, den unaufhörlichen Verfall und die Obsoleszenz des Staates.

Der Staat ist auf dem Rückzug, überall an allen Fronten. Inmitten von steigenden Schulden und inkompetenter Leitung muss der Staat seine Rolle als monopolistischer Produzent von Gütern und Leistungen aufgeben. Als bevormundender Distributor öffentlicher Mittel steuert der Staat ins Desaster, weil das Wachstum der Substanz nicht dem der Erwartungen und Forderungen entspricht. Als Aufseher über das Leben der Menschen ist der Staat völlig unfähig, mit Ausnahme von kulturell schwachen und technologisch zurückliegenden Gesellschaften.

Viele Aufgaben, die Vorrechte des Nationalstaates waren, wurden ihm von internationalen Organisationen weggenommen oder von regionalen Gemeinschaften zurückerobert.

Der Nationalstaat wird von oben (Globalisierung) und von unten (Lokalisierung) bedrängt und wird allmählich durch die gleichzeitige Aktion dieser mächtigen Kräfte zerkleinert.

Sicherlich werden der Staat und seine parasitären Schichten nicht höflich abtreten, ganz ohne zu kämpfen.

Einnahmen in einem Bereich werden durch einen strikteren Fiskalismus in einem anderen ausgeglichen (z. B. durch Reduzierung der direkten Besteuerung in Verbindung mit einer Vergrößerung oder gar Verdopplung der indirekten). Die rechte Hand holt sich routinemäßig zurück, was die Linke zugestanden oder verloren hat.

Die Realität hat viele Facetten. So wurde zum Beispiel, was die staatliche Kontrolle betrifft, dasselbe Jahr (1989), dass den Fall der Berliner Mauer und den Zusammenbruch der diktatorischen Staaten in Osteuropa gesehen hat, Zeuge des Tien-an-Men Massakers und der Stärkung der chinesischen Staatsdominanz. Dasselbe Jahr erlebte auch das Erscheinen des World Wide Web, das jedem zukünftigen Versuch zur Kontrolle und Festschreiben von Grenzen durch den Staat den Todesstoß versetzte.

Vergeblich kämpft diese zunehmend nutzlosere und gefährlichere Entität, die der Staat geworden ist, gegen die neue Saat, die vom Einfallsreichtum und der Widerstandsfähigkeit von Menschen auf der ganzen Welt gesät wird. Diese neue Saat macht den Staat überflüssig und beschleunigt den Moment, in dem der Staat als vergangenes Überbleibsel alter Zeiten verschwinden wird.

 

41. Die neue Saat (^)

Sogar während des Aufstiegs des Etatismus wurde eine neue Saat gesät, die langfristig seinen Untergang bedeuten würde.

Das alles hat wie so oft in der Geschichte damit zu tun, tatsächliche oder künstliche Grenzen zu überschreiten. Heutzutage geschieht das mit einer Geschwindigkeit und in einem Ausmaß, die bemerkenswert sind.

Diese Grenzüberschreitung betrifft vor allem drei Aspekte, die Menschen zusammenbringen:

- sich äußern (reden): Individuen sind verbunden und kommunizieren mit der ganzen Welt freier, leichter und billiger als je zuvor

- entdecken (reisen): Individuen bewegen sich über die ganze Erde, reisen gezielt und kreuz und quer auf ihr herum, körperlich und virtuell

- austauschen (handeln): Individuen tauschen mit der ganzen Welt nicht nur materielle Güter, sondern auch Ideen und Projekte aus.

Durch dieses universelle Ausdrücken/Entdecken/Austauschen werden Menschen und die Gemeinschaften, denen sie sich zugehörig fühlen, zunehmend nationen- und staatenlos, während sie mehr und mehr mit verschiedenen Kulturen, Orten und Gesellschaften vertraut werden, zu denen sie kommen, in denen sie verweilen, leben und mit denen sie handeln und so weiter.

Tatsächlich sind es nicht das Reden, Reisen oder Handeln selbst, die bemerkenswert sind oder der Umstand, dass es in einem einmaligen Maßstab passiert, sondern das, wohin es führen kann und bezüglich eines neuen konzeptionellen und empirischen Paradigmas auch bereits führt.

 

42. Das neue Paradigma (^)

Einer neuen Realität, die dem Aufgang einer neuen Saat von Möglichkeiten folgt, muss ein neues Paradigma gleichkommen, also eine neue, passendere Art, die Realität zu betrachten und Aussichten zu ergreifen.

Dieses neue Paradigma versteht die Welt als zusammengesetzt aus kleinen, verbundenen und zusammenarbeitenden Gemeinschaften statt aus großen, monolithischen separaten Blöcken (den Nationalstaaten), die in Opposition zueinanderstehen.

Es basiert auf den Konzepten:

- mikro: durch Kommunikation wird Raum kleiner und Zeit kürzer; Menschen können in einem Bruchteil der Spanne (Augenblicklichkeit) beinahe an jedem Ort sein (Allgegenwärtigkeit). Miniaturisierung von Bauelementen und Verkleinerung von Apparaten gehen Hand in Hand mit einem Anstieg an Macht und Handlungsspielraum für jeden Menschen. Viele Individuen haben bereits Werkzeuge zur Verfügung, die vor gar nicht so langer Zeit nicht mal die Reichen besassen.

- poli: die Möglichkeiten, die neue kleine Geräte zu unglaublich reduzierten Kosten anbieten, führt zu einer Vervielfachung von Entscheidungszentren, zu einer Streuung von Wissen und Macht, die eine Polyfonie von Stimmen in einem riesigen universellen Netzwerk im Weltmaßstab hervorbringt.

- Kontinuum: dies polyfone universale Realität kann als durchgängiges Netzwerk von Gemeinschaften gesehen werden, in dem Geräusche (Sprachen), Farben (Körper), Geschmäcker (Einstellungen) etc. sich wie in einem Spektrum von Abstufung und Vielfalt vermengen und vermischen. Aus diesem Grund sind die Entitäten, die ein Netzwerk ausmachen, nicht länger als gegensätzliche Dualitäten innerhalb eindeutiger Grenzen zu sehen, sondern als verbundene, zusammenarbeitende Pluralitäten (ergiebige Entitäten) in einem grenzenlosen Kontinuum

Kurz gesagt ist die Welt dabei, ein planetares polyfones Netzwerk von Mikro-Gesellschaften zu werden, eine andauernde Vielfalt von Ortschaften, die von weltoffenen Menschen und Gemeinschaften bewohnt werden, die miteinander in Verbindung stehen und selbst die Verantwortung für ihre eigene Realität tragen.

 

43. Die neuen Voraussetzungen (^)

Der Übergang von großen, monolithischen kollidierenden Blöcken zu einem Kontinuum von kleinen polyfonisch verbundenen Entitäten verlangt die Erfüllung einiger Voraussetzungen und ihrer dauernden Verfeinerung.

Diese Voraussetzungen können wie folgt zusammengefasst werden:

- Vielfalt: wie Kleinheit Pluralität befördert, so befördert Pluralität Vielfalt. Die Vielfalt von Situationen und Entitäten ersetzt Uniformität und geht mit einem Bedarf an Vielseitigkeit einher.

- Vielseitigkeit: das bedeutet Flexibilität und Anpassungsfähigkeit als Antwort auf eine reichhaltige und verschiedenartige Welt. Sie ersetzt Starrheit und geht mit einem Bedarf an Tempo einher.

- Schnelligkeit: die Bereitwilligkeit zum Eingreifen, besonders um ein Desaster zu verhindern oder eine Störung zu vermeiden und eine schwierige Situation zu lösen, ohne durch unverantwortliche Verschleppung oder bedeutungslose Verfahren behindert oder blockiert zu werden.

Diese Voraussetzungen von Diversität / Vielseitigkeit / Schnelligkeit können vom Etatismus und seiner bürokratischen Art zu denken und zu handeln, nicht erfüllt werden, da er auf den genau entgegengesetzten Prinzipien besteht:

- Uniformität an Stelle von Vielfalt

- Starrheit an Stelle von Vielseitigkeit

- Rituale Stelle von Schnelligkeit.

Diese neuen Voraussetzungen, die aus dem neuen Paradigma hervorgehen, machen ein neues Szenario nötig und fördern es auch.

 

44. Das neue Szenario (^)

Ein Ungleichgewicht ist zum Ende des 20. Jahrhunderts zunehmend sichtbar geworden. Auf der einen Seite werden wir Zeuge der ständig wachsenden Stärke der einzelnen Menschen, sich autonom und universell zu äußern, zu entdecken und auszutauschen (reden, reisen, handeln), während sie vonseiten der Führer des Staates und ihren Bürokratien immer noch Druck und Hindernissen ausgesetzt sind. Das kann nicht so weitergehen.

Ein neues Szenario beginnt sich schon abzuzeichnen.

Dieses neue Szenario basiert auf und fördert:

Ausschaltung von Zwischenstufen: direkter Zugang/Handlung ersetzen Filterung und Delegierung; Ausschaltung von Hierarchien:

Ausschaltung von Hierarchien: mit dem nötigen Wissen ausgestattete Handelnde erhalten direkten Zugang zu Informationen und werden Entscheider;

Individualisierung: Personalisierung und Anpassung entwickeln sich weiter, wenn einzelne Menschen und Gemeinschaften die Führungsrolle anstelle von Klassen und Massen übernehmen;

Verbreiterung: Streuung (von Menschen, Ideen, Hilfsmittel) wird ohne zusätzliche Kosten und ohne Nachteile oder wirtschaftliche Aufwendungen möglich;

Dezentralisierung: so wie das Netzwerk wichtiger als ein besonderer Punkt wird, gibt es keine zentralen Knotenpunkte;

Öffnung: künstliche Grenzen schwinden und lösen sich schließlich ganz auf;

Demonetisierung: nationale Währungen verschwinden und werden durch elektronische Kompensationseinheiten ersetzt.

All diese Aspekte des neuen Szenarios sind Teil einer Machtverschiebung, die untergründig schon eine geraume Zeit lang ablief.

Das Ergebnis dieser Verschiebung ist Polyarchie.

 

45. Polyarchie (^)

Polyarchie ist die Organisation/Verteilung von Macht in einem Zeitalter von universeller elektronischer Kommunikation und allgegenwärtiger kybernetischer Regelung.

Während Kapitalismus auf Maschinen (Kapital) und Produktion und Etatismus auf Beschäftigung (Arbeit) und Konsum basierte, baut Polyarchie auf Aktivitäten auf, bei denen Menschen, die reich an Wissen und Erfahrung sind, mit Artefakten, die mit Daten und Information ausgestattet sind, interagieren und dabei die Freiheit und das Wohlergehen von einzelnen Individuen und Gemeinschaften voranbringen.

Polyarchie, die für Freiwilligkeit (Selbstbestimmung) gegen Dirigismus (Begrenzung der Freiheit) eintritt, bedeutet - aus vielen Gründen sowohl moralischen als auch historischen - keine Rückkehr zum Kapitalismus. Der einfachste Grund ist vielleicht, dass einige der Komponenten, die den Kapitalismus hervorgebracht haben (z. B. mechanische Mittel) nicht mehr da sind. Wir sind in sozialer und technischer Hinsicht weit über den Kapitalismus hinausgegangen, da eine mechanisch physikalische Welt einer elektronisch virtuellen Platz gemacht hat und die zentrale Rolle, die einst das Kapital (Betriebsmittel) besessen hatte, nun von ideellen Aktivitäten (Fluss kreativer Ideen) eingenommen wurde.

So wie Etatismus den Kapitalismus ersetzt hat, so ersetzt Polyarchie den Etatismus, der die Organisation/Konzentration von Macht war/ist, die zu einer Welt beherrscht von Größe und Unvernunft passte, beherrscht von einer Bürokratie, die Vielfalt verhinderte, Flexibilität abschob und oft die Vernunft vernebelte.

Polyarchie ist die angemessene Organisation einer kybernetischen Welt von

- Knotenpunkten (Individuen, Gemeinschaften)

- Netzen (Netzwerke der Kommunikation, Koordination und Kooperation)

- Pfade (Pluralität der Verbindungswege und Ausdrucksformen).

Sie basiert auf den Mitwirkungsmöglichkeiten von einzelnen Menschen und Gemeinschaften in einem in der Menschheitsgeschichte noch nie erreichten Maß.

Während Etatismus auf der Aufteilung von Macht zwischen Eliten in einem Zentrum innerhalb des Staates basiert, baut Polyarchie auf der Verteilung und Vervielfachung von Befugnissen an Einzelne und Gemeinschaften überall, ohne den Staat.

Tatsächlich lässt Polyarchie durch die Förderung der immer weiteren Verbreitung von Technologie (Kommunikation) und Bewusstsein (Partizipation) die Idee von Mittelpunkt und Peripherie selbst und sicher auch ihre Kristallisation in Frage stellen.

Durch die Vervielfachung von Zentren zielt Polyarchie darauf ab, zwei historische Klüfte zu überwinden:

- die Kluft Zentrum-Peripherie (auch bekannt als die Stadt-Land-Trennung): jede Gemeinschaft wird ein aktiver Knotenpunkt (ein Zentrum) im Netzwerk

- die Kluft Beherrschung-Abhängigkeit (auch bekannt als die Manuell-Intellektuell-Trennung): jeder Einzelne wird ein Protagonist (ein Mitwirkender) in der Gemeinschaft und im Netzwerk.

Wann und wo auch immer verpflichtende und klar abgegrenzte Trennungen dieser Art in der Zukunft überleben, wäre das ein Zeichen für das Fortbestehen des Etatismus, wenn auch unter einer neuen Phraseologie versteckt.

Abgesehen vom Kernpunkt der Vervielfachung der Zentren basiert Polyarchie auf spezifischen

  • Grundsätzen
  • Protagonisten
  • Prozessen

 

46. Grundsätze (^)

Polyarchie verficht die folgenden allgemeinen Grundsätze:

- Autonomie: Einzelpersonen und Gemeinschaften sollten frei sein, alles zu tun, das nicht deutlich als schädlich für andere Personen oder Gemeinschaften erklärt wurde. Dies steht im Gegensatz zum Etatismus im Allgemeinen und mit dem autoritären Staat im Besonderen, wo wir durch eine Wucherung von Verboten, Restriktionen und Auflagen den Punkt erreicht hatten, an dem alles, was nicht explizit erlaubt war, verboten war.

- Gleichberechtigung: während Gleichstellung Uniformität bedeuten könnte, richtet sich Gleichberechtigung auf Fairness zwischen Menschen aus, also darauf, sich auf vernünftige, gerechte und ehrliche Art zu verhalten.

- Achtsamkeit: staatliche Wohlfahrt wird dadurch ersetzt, dass Einzelne und Gemeinschaften sich umeinander kümmern und sich gegenseitig Selbstständigkeit antreiben, statt in Abhängigkeit gedrängt zu werden. Besondere Fälle ausgenommen ist die Rolle dessen, der sich sorgt oder für den gesorgt wird, nicht permanent auf dasselbe Individuum beschränkt, wie es unter dem bürokratischen Etatismus die Regel ist, sondern wird abwechselnd von jedem übernommen.

Die praktische Umsetzung dieser allgemeinen Grundsätze erfordert die Zunahme und Konsolidierung von neuen aktiven Protagonisten im Gegensatz zu den vielen zurückgezogenen und gleichgültigen Gestalten, die unter dem Etatismus dahin vegetieren.

 

47. Protagonisten (^)

Polyarchie ist das Ergebnis von und wird zur Folge haben:

- polyvalente und kosmopolitische Individuen

- multikulturelle und multiethnische Gemeinschaften.

Diese zwei Protagonisten rufen eine dynamische Realität ins Leben, die aus Netzwerken besteht, von:

- Produktions- und Distributionskooperativen;

- lokalen (regionalen, subregionalen) bürgerlichen Einrichtungen (Vertretungen), die elementaren Dienstleistungen zur Verfügung stellen (z. B. der Unterhalt von Straßen) und grundlegende Verordnungen umsetzen (z. B. Lebensmittelkontrolle).

Die Unterscheidung zwischen Individuen und Gemeinschaften hat nichts mit dem alten ideologischen Schein-Gegensatz zwischen privat und öffentlich zu tun, der als Gegensatz zwischen denjenigen, denen der Zugang zu staatlichen Pfründen vorenthalten, war (Privatpersonen) und denjenigen, die sie als staatliche Privilegien erhielten (z. B. Höflinge, Kriecher etc.), entstand.

Genauso verliert die Unterscheidung zwischen Bürger (Einheimischer, Hiesiger) und Ausländer (fremdländisch Fremder) jede juristische Relevanz und wird bedeutungslos, da man sich überall hinbewegen kann, frei von irgendwelchen Grenzen, die Staaten aufgerichtet haben, um Freizügigkeit zu verhindern, wie es noch vor gar nicht allzu langer Zeit der Fall war.

Mit dem Aussterben des Staates und seiner Bürokratie verschwinden diese falschen Unterschiede und lebensfeindlichen Gegensätze und werden durch die Interaktion von Einzelnen und Gemeinschaften in einem Netzwerk-Kontinuum ersetzt: von einem reifenden Individuum zu einem voll entwickelten Geschöpf, zu vielen Individuen, zu einer kleinen Gemeinschaft, zu vielen Gemeinschaften, zu einer Weltgemeinschaft gemacht aus einer Welt von Gemeinschaften.

Diese fruchtbaren und vielfältigen Interaktionen zwischen Protagonisten (Einzelnen Gemeinschaften) beleben die dynamischen Prozesse der Polyarchie.

 

48. Prozesse (^)

Polyarchie basiert auf selbst-regulierten, multi-regulierten Prozessen auf verschiedenen, unter einander verbundenen Ebenen.

Im Gegensatz zu Etatismus, der im Wesentlichen auf einem Top-Down-Entscheidungsfindungsvorgang aufbaut, baut Polyarchie auf netzförmigen Strömen (Information, Entscheidung, Handlung) auf, bei denen es kein sichtbares Zentrum oder eine anerkannte feste Spitze gibt.

Man muss die verschiedenen hierarchischen Ebenen des bürokratischen Etatismus abschaffen, um das allgemeine Prinzip der Autonomie umzusetzen. Dieses Prinzip steht ganz einfach dafür, dass die, die von Bestimmungen betroffen sind, auch die sein sollten, die die Entscheidung über die Bestimmung beeinflussen sollten.

Mehr noch reagieren polyarchische Entitäten wie biologische Organismen dauerhaft und in Echtzeit auf Ungleichgewichte (durch Feedback) sehen Lösungsansätze voraus und nehmen sie vorweg (durch vorausschauende Planung).

Die Realität ist so dynamisch, dass der staatlich-statische Weg, Probleme durch nachträgliche administrative oder legislative Maßnahmen, deren Formulierung und Einbringung (von der Umsetzung gar nicht zu reden) schon Ewigkeiten braucht, zu lösen, mehr und mehr zu einer vergangenen Zeit zu gehören zu scheint.

Jetzt müssen die sklerotischen administrativen Utensilien des Etatismus den kybernetischen Prozessen der Polyarchie Platz machen. Sie bestehen in der Entwicklung autonomer Knotenpunkte, verbunden durch verlässliche Netze und schnelle und flexible Wege, bei denen Vielseitigkeit (der Handlungen) gekoppelt mit Geschwindigkeit (der Entscheidungen) der Vielfalt (der Situationen) entspricht.

Polyarchie ist die angemessene Art des Kommunizierens/Koordinierens/Kooperierens in der Zeit der vernetzen Gesellschaft, wenn innere moralische Prinzipien wieder äußere aufgezwungene Fürsten und Vorgesetzte ersetzen und der Mensch nicht länger eine Schraube in der Maschine des Staates ist, wo er die stets gleiche Aufgabe immer und immer wieder ausführt, sondern der Protagonist eines neuen, inspirierenden Spiels auf der Weltbühne und in der Weltgeschichte.

 

49. Schlussüberlegungen (^)

Der Zeitgeist des 20. Jahrhunderts war der Mythos des Staates, des Beschützers, des Verteilers der "Alma Mater" der von Ängsten geplagten Massen. Die Angst ist verschwunden und der Mythos fällt auseinander. Nur der Staat überlebt durch Trägheit.

Es wird aber immer noch ein heftiger Kampf zwischen dem Staat und den Menschen/Gemeinschaften geführt, die für Polyarchie eintreten. Die Staatsbürokratie wird bis zum Ende versuchen, die Autonomie mit allen Arten von ideologischen Waffen zu bekämpfen, ihre Litanei gegen Individualismus, "privaten" Interessen und Anarchie herausschreiend. Es ist dasselbe alte Spiel: das Verbreiten von Hass und Furcht, die Förderung von Verantwortungslosigkeit und Dummheit.

Sie wird dafür die übliche Gruppe von Spießgesellen finden, den autoritären Kommunisten, den sich selbsttäuschenden Liberalen, den Schein-Anarchisten, den zornigen Gewerkschaftler, den seine Nation liebenden Patrioten, alle unter respektablen Fahnen (Anarchismus, Ökologie, Internationalismus, Anti-Autoritarismus). Unter diesen Mäntelchen werden sie versuchen, dasselbe stinkende Paket von Monopolismus, Protektionismus und Paternalismus, kurz gesagt, staatliche Strangulierung durchzusetzen. Und wie gewöhnlich werden sie vorgeben, dass im Namen derer zu tun, die sie angeblich verteidigen (die Arbeiterklasse, die Menschen in den Entwicklungsländern etc.), aber tatsächlich nur moralisch korrumpieren und materiell unterdrücken.

Menschen und Gemeinschaften müssen sich dieses ideologischen Mülls bewusst werden/sein, um das was dahinter steht, zu demaskieren, nämlich die Arroganz, die Habgier und den erbärmlichen Parasitismus des Staates.

Wir müssen unseren Weg aus dem Sackgassen-Dreieck von Bürokraten und Politikern, degenerierten und unterwürfigen Intellektuellen und falschen und korrupten Sozialhilfeempfängern finden. Wir müssen dem Parasitismus ein Ende machen und ihn brandschatzen und ersetzen durch die Produktion und Teilnahme von Gütern und Dienstleistungen, die zu einem immer weiteren Wohlergehen führen.

Kooperation (gegenseitige Hilfe) war im Hintergrund der Geschichte; sie muss jetzt in den Mittelpunkt gerückt werden.
Der Nationalstaat zerfällt rapide und man kann seine einsetzende Verwesung schon an den vielen Fällen von Filz, Korruption, Verschwendung, Ungerechtigkeiten und Gewalt riechen, die ein wesentlicher Bestandteil des Alltags dieses riesigen Herrschens der Parasiten waren und mehr und mehr sind. Wir müssen sehr vorsichtig sein, was sie ersetzt, denn Parasiten haben viele Tricks in ihrem Ärmel und sind gut darin, sich viele Arten auszudenken, die Menschen moralisch, geistig und materiell abhängig zu halten.

Die Dynamik Meister-Sklave, Egoismus-Altruismus geht ewig weiter. Das Streben nach Emanzipation und Befreiung endet nie.

Auch Polyarchie ist nicht die endgültige Lösung. Sie wird nur ein geschichtlicher Abschnitt sein. Universalismus und Lokalismus könnten durchaus ihre Bedeutung verändern, einem weiteren Kräftespiel Raum machen.

Wahrscheinlich wird die Vervielfachung der Mittelpunkte nicht genug sein, und es wird ein Umschwenken von Polyarchie zu Panarchie geben, wenn es jedes einzelne Individuum und jede kleine Gemeinschaft anstrebt, mehr und mehr Protagonist zu werden, ein blühendes Zentrum in eigenem Recht.

Geschichte geht bis zum Ende der Zeit weiter.

"Menschen und Gemeinschaften der Welt

Wacht auf, tut Euch zusammen und handelt.